Vor dem Ausblick ein kleiner Rückblick: Sie haben maßgeblich die Entwicklung binauraler Hörsysteme beeinflusst. Welche Idee steckte dahinter?
Prof. Dr. Dr. Kollmeier: Der Mensch hat ja bekanntlich zwei Ohren und einen mehr oder weniger leistungsfähigen Cocktailpartyprozessor dazwischen, sage ich immer. Traditionell war die Anpassung von Hörgeräten auf jedes Ohr getrennt ausgerichtet. Das führte dazu, dass ein Patient auf dem rechten oder linken Ohr gut versorgt wurde. Aber dann geht er zum Beispiel mit beiden Hörgeräten auf die Straße und das ist plötzlich viel zu laut.
Zusätzlich ist es so, dass wir als Normalhörende in der Lage sind, durch den Vergleich von links und rechts unerwünschte Störgeräusche und den Schall zu unterdrücken und Nutzsignale stärker hervortreten zu lassen. Wenn wir in schwieriger akustischer Umgebung ein Ohr zuhalten oder einen Ohrstöpsel einsetzen, werden wir feststellen, dass wir viel größere Schwierigkeiten haben, uns zu verständigen. Bei Schwerhörigen ist das genau so ein Effekt. Da ist die Fähigkeit, binaural zu hören, also Störund Nachhall zu unterdrücken, nur noch wenig vorhanden. Erste typische Symptome sind das, was ich den „Cocktailpartyeffekt“ nenne oder die Gesellschaftsschwerhörigkeit: Die Schwierigkeit, in lauter Umgebung bei Hintergrundrauschen oder Nachhall, Sprache zu verstehen. Das ist die häufigste Beschwerde bei Menschen mit beginnender Schwerhörigkeit – sie fühlen sich normal hörend, beklagen sich aber darüber, dass andere Menschen undeutlich sprechen oder die Umgebung sehr laut ist.
Ich habe die binaurale Komponente schon relativ früh in meiner Doktorarbeit untersucht. Und zwar hat es mich in Verbindung von Physik und Medizin interessiert, wie sich das binaurale Hören spezifisch durch Hörgeräte verbessern lässt. Ich habe zunächst in Göttingen, später in Oldenburg daran geforscht, wie sich das Zusammenspiel zwischen dem linken und rechten Hörgerät systematisch verbessern lässt. Das haben wir erst mit sehr sperrigen Laborcomputern gemacht. Die Bild titelte damals so schön: „Oldenburger Forscher entwickeln 25 Kilogramm schweres Hörgerät“. Das waren natürlich Computer, mit denen wir nur im Raum Experimente machen konnten. Mit der Zeit sind die Systeme immer kleiner und leistungsfähiger geworden. Dann wurde die drahtlose Verbindung getestet. Erste Untersuchungen dazu haben wir zusammen mit Siemens, heute Sivantos, gemacht. Es ist uns letztendlich gelungen, die Technik in die Praxis umzusetzen. Dafür sind wir 2012 mit dem Deutschen Zukunftspreis ausgezeichnet worden.
Ein großer Erfolg! Wie schätzen Sie den Einfluss ihrer Entwicklung heute ein?
Prof. Dr. Dr. Kollmeier: Heute gibt es meistens eine Kopplung zwischen dem rechten und dem linken Hörgerät. Diese unterstützt das binaurale Hören – mit unterschiedlicher Komplexität. Die Hörgeräte bedienen sich einer Streamingtechnologie, um das akustische Signal vom rechten auf das linke Hörgerät zu übertragen und umgekehrt. Das funktioniert gut, aber wir sind noch nicht da, wo wir sie gern hätten und wo wir im Labor derzeit dran forschen.
Und was genau ist das?
Prof. Dr. Dr. Kollmeier: Wir fragen uns, wie wir das Hörgerät dazu bringen können, den Hörwunsch des Trägers zu unterstützen. Es soll zum Beispiel in einer komplexen akustischen Szene herauskriegen, welche der verschiedenen Personen und der Dinge, die dort Geräusche machen, gewünscht sind und hervorgehoben – oder eben unterdrückt – werden sollen. Das ist eben nicht zwangsweise immer das Objekt, das man anguckt oder wo die Nase hinzeigt. Gerade in dieser typischen Cocktailpartysituation schaut man den Gesprächspartner eher etwas schräg an, damit das Ohr mehr auf ihn gerichtet ist. Oder ganz typisch: Manchmal redet man mit seinem Gegenüber und hört gleichzeitig seinen Namen von hinten und will mitkriegen, was gesagt wurde. Und zwar, ohne sich gleich vom Gesprächspartner abwenden zu müssen. In der Realität gibt es viele solcher Situationen, in denen der Hörer eine deutliche Unterstützung will und das dem Hörgerät mitteilen möchte. Aber: Das Hörgerät ist erst einmal zu dumm, um das entscheiden zu können beziehungsweise es trifft häufig nicht die Entscheidung, die wir haben wollen.
Deswegen arbeiten wir im Exzellenzcluster daran, dass Hörgerät noch stärker individuell auf die Bedürfnisse des Hörgestörten anzupassen und dabei zu ermöglichen, die Intentionen des Hörers mitzukriegen. Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, dass es Gedanken lesen soll, aber es geht ein bisschen in die Richtung…
Das klingt auch danach…
Prof. Dr. Dr. Kollmeier: Die Idee ist, dass ein Hörgerät mit Beschleunigungs- und Lagesensoren ausgestattet ist und so in Zukunft in die Lage versetzt wird, festzustellen, wie das Auge relativ im Kopf liegt. Daraus lässt sich dann auch ziemlich gut abschätzen, wo die Aufmerksamkeit des
Hörenden hingeht.
Dazu kommt noch das akustische Problem. Das Hörgerät muss die akustische Szene analysieren können. Das ist eine schwierige Aufgabe, die wir mit einem gesamten Sonderforschungsbereich Hörakustik angehen. Nur aus den Mikrofonsignalen soll das Hörgerät in der Lage sein, zu analysieren, wieviele Objekte es im Raum gibt, wo sie lokalisiert sind und welches davon für den Träger wahrscheinlich das Wichtigste ist.
Das Hörgerät soll dementsprechend in der Lage sein, einem Objekt nachzufolgen – unabhängig davon, wo der Träger den Kopf hin dreht oder ob das Objekt zwangsweise von vorne kommt. Das Problem bei den konventionellen Richtungsfiltern ist, dass sie eine feste Richtcharakteristik haben. Wenn wir nach vorne gucken, richtet sich das Hörgerät auch darauf aus. Man fühlt sich akustisch eingesperrt, weil die Objekte von der Seite oder von hinten abgeschwächt werden und man die Umgebung nicht richtig mitkriegt.
Unser normales Hören funktioniert da anders. Wir sind in der Lage herauszufinden, wo die Objekte sich im Raum befinden. Und wenn eins davon wichtige Informationen für uns hat, können wir das rauspicken und dort hinhören. Zur Zeit haben wir ein Hörgerät nach dem Prinzip der Scheuklappen – im Prinzip von Scheuklappen, die vergrößert werden. Wir brauchen aber etwas anderes.
Was genau brauchen wir denn?
Prof. Dr. Dr. Kollmeier: Wir brauchen ein Hörgerät nach dem Prinzip der Gleitsichtbrille. Bei der Gleitsichtbrille hat der Träger verschiedene Zonen, durch die er scharf gucken kann – er sucht sich quasi heraus, was er sehen will. So ähnlich streben wir das mit dem Hörgerät an. Das bedeutet, dass wir die Hörgerätetechnologie deutlich weiter entwickeln müssen. Die Interaktion mit der Umwelt muss deutlich schneller werden – der Hörer muss sofort die gewünschten Informationen auf akustische Weise dargeboten bekommen. Die weitestgehende Vision ist also die Gleitsichtbrille für die Ohren. Aber das ist nicht so leicht zu realisieren, weil beim Sehen die Blickrichtung aktiv steuerbar ist. Beim Hören funktioniert die Richtungsauswahl im Gehirn. Das Hörgerät muss also herausfinden, wohin man genau hören will und diese „Ohrenblicke“ nutzen, um genau das zu verstärken. Bis wir dahin kommen, können wir nur Schritte machen.